FRüHE PRäGUNG: DAS HABE ICH ALS KIND üBER EINSAMKEIT GELERNT

Einsamkeit bedeutet nicht für alle Menschen dasselbe: Manche fühlen sich einsam, wenn sie allein sind, andere in Gesellschaft. Unsere Autorin teilt ihre Erfahrungen mit Einsamkeit – und was sie daraus gelernt hat.

Kürzlich habe ich einen Satz gelesen, der mich nachdenklich gemacht hat: "Nichts fühlt sich einsamer an, als allein im Restaurant zu sitzen". Geschrieben hat ihn der Spiegel-Kolumnist Daniel Haas in einem lesenswerten Artikel über seine Erfahrungen mit Einsamkeit. Spontan habe ich gedacht: Allein im Restaurant sitzen? Gehört zu meinen liebsten Momenten. Einsam fühle ich mich eher in Gesellschaft: wenn ich mit Menschen zusammen bin – und sie nicht verstehe.

In einem Moment, in dem sich alle für ein Thema begeistern, für das ich mich einfach nicht interessieren kann – die neue H&M-Kollektion, den Börsenkursverlauf der Siemens-Aktie, den elften Geburtstag von Prinz George. Mein Einsamkeitsgefühl kann in Situationen aufkommen, in denen mir niemals einfiele, mich so zu verhalten wie die Menschen um mich herum – mitten im Gespräch das Handy herausholen und einen Chat anfangen oder damit plötzlich Selfies machen oder eine Straßenlaterne fotografieren.

An sich ist mit solchen Momenten nichts verkehrt. Es darf sie geben, schließlich sind Menschen unterschiedlich, haben heterogene Interessen und eigene Wahrnehmungen der Welt. Doch manchmal, wenn ich solche Situationen erlebe, versetzen sie mich zurück in meine Kindheit. In Jahre, in denen ich unerträglich einsam war – und in denen ich damit begonnen habe, Einsamkeit mit einem zweiten Gefühl zu verknüpfen, das letztlich auch eine Überzeugung in mir wurde: dem, dass ich falsch bin und etwas mit mir nicht stimmt. 

Daniel Haas und ich sind nicht die einzigen Menschen, die mit Einsamkeit Erfahrung haben: Laut einer Umfrage im Auftrag der Depressionshilfe bezeichnet sich jede vierte Person in Deutschland als "sehr einsam". Eine Onlinebefragung von Teilnehmenden zwischen 16 und 30 Jahren hat ergeben, dass schon junge Menschen häufig Einsamkeit erleben: Elf Prozent der Befragten bekannten sich zu diesem Gefühl, weitere 35 Prozent ordneten sich als "moderat einsam" ein. Die Zahlen machen deutlich: Einsamkeit ist für viele Menschen ein Thema. Sie zeigen uns aber nicht: was Einsamkeit für die Betroffenen im Einzelnen bedeutet. Wie und wann sie ebenjene erfahren. Was sie mit ihnen macht. Das kann nämlich von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich sein.

Wie ich lernte, was Einsamkeit ist

Bei mir war es vor allem die sogenannte Orientierungsstufe, in der ich meine Orientierung verlor, Klasse fünf und sechs. Ich habe nicht verstanden, warum wir stundenlang herumsitzen mussten, anstatt einfach schnell die leeren Kästchen auszufüllen und etwas Lustiges zu machen – Eckenrechnen spielen oder Verstecken. Ich habe nicht verstanden, warum in Mathearbeiten bei der letzten Aufgabe niemand das gleiche Ergebnis hatte wie ich und hinterher alle böse auf mich waren, wenn ich die elende Eins hatte. Was die Lehrerin von mir wollte, wusste ich immer sofort, doch bei meinen Klassenkameradinnen stieß ich an meine Grenzen – es war, als redeten sie in einer anderen Sprache als ich. Und so war ich für einige Jahre sehr einsam. Erst nach einem Jahrgangswechsel in die Oberstufe änderte sich das. Ein gemeinsames Interesse an sturmfreien Buden, Malibu-Ananas und dem neuen Coldplay-Album verband mich plötzlich mit meinen Mitschülern und ich fand endlich Anschluss.

Wer nie Ausgrenzung erlebt hat, mag das banal finden, aber: Für mich war diese Episode furchtbar – und prägend. Sie hat mir beigebracht, dass ich stets alles daran setzen möchte und muss, die Menschen um mich herum zu verstehen. Sie zu verstehen, eine Verbindung zu ihnen zu finden, unsere Gemeinsamkeiten zu erkennen. Sie hat sogar meine Studienfachwahl beeinflusst: Ich habe allgemeine und vergleichende Sprachwissenschaft studiert, weil ich glaubte, wenn ich Sprache verstünde, könnte ich auch Menschen verstehen. Mein Leben wäre völlig anders verlaufen und ich wäre in vielerlei Hinsicht nicht die Person, die ich heute bin, hätte ich diese Einsamkeit in meiner Schulzeit nicht erlebt. 

Meine Gedanken zur Einsamkeitswelle – und wie's mir heute geht

Ausgehend von meiner Erfahrung würde ich folgende Behauptung in den Raum stellen: Einsamkeit ist nicht nur ein zurzeit weit diskutiertes Thema, sondern für jeden einzelnen betroffenen Menschen eine riesengroße Sache. Dabei kann, wie wir Einsamkeit erleben, individuell und somit sehr vielfältig sein.

Manche Menschen fühlen sich einsam, wenn sie allein im Restaurant sitzen. Andere, wenn sie zu Hause einen Film schauen, über den sie alleine lachen oder weinen. Einige Leute mögen sich einsam fühlen, während sie neben ihrem Ehepartner liegen, andere, während sie auf den 1.000. Like von ihren Instagram-Fans warten. Vielleicht gibt es weitere Personen, die sich, wie ich, einsam fühlen, wenn sie die Menschen um sie herum nicht verstehen.

Dass Menschen soziale Wesen sind und Gefüge brauchen, um zu überleben, ist bekannt. Unsere Einsamkeit lehrt uns jedoch, dass es nicht irgendein Sozialgefüge sein darf, in dem wir leben. Es muss eines sein, dem wir uns zugehörig fühlen. In dem wir die bestehenden Werte und Traditionen teilen können und Verbindung, Solidarität und Gemeinsamkeit zu unseren Mitmenschen spüren. Wenn Umfragen ergeben, dass sich jeder vierte Mensch, in manchen Altersklassen fast jeder zweite, einsam fühlt, ist das ein Hinweis darauf, dass das, was wir als Individuen brauchen, in unserer Gesellschaft zurzeit nicht so leicht zu finden ist.

Woran das liegt, weiß ich nicht. Am Internet? An Corona? Das Aussterben der Eckkneipe finde ich auf jeden Fall doof. Dass Menschen heute egoistisch oder antisozial eingestellt wären, würde ich hingegen bestreiten. Wenn ich von mir ausgehe, würde ich sagen, dass die Welt zurzeit sehr schwer ist zu verstehen. Es ist nicht leicht, darin einen Platz zu finden und nicht verloren zu gehen. Das kann womöglich Einsamkeit auslösen, selbst wenn die Freundin auf jede Nachricht reagiert und der Vater bei einem Anruf sofort den Hörer abnehmen würde. Wahrscheinlich ist es eine Vermengung von Faktoren, die die aktuelle Einsamkeitswelle antreiben. Doch letztlich hat jeder einsame Mensch seine eigene Geschichte – und seine eigenen Gründe, warum er einsam ist.

Was mich eher optimistisch stimmt: dass es vor allem viele junge Menschen sind, die zurzeit von Einsamkeit betroffen sind. Natürlich tut es mir Leid, dass es ihnen gerade furchtbar geht. Doch in früheren Lebensphasen ist Einsamkeit oft temporär: Menschen ziehen immer wieder um, beginnen eine Ausbildung, einen neuen Job, ein Studium, in dem sie zunächst niemanden kennen. Solche Lebensumstände können Einsamkeit begünstigen. Ja, in einigen Fällen manifestiert sich diese Einsamkeit und die Betroffenen müssen unbedingt Hilfe bekommen. Aber in sehr vielen Fällen finden jüngere Menschen nach einer Weile wieder hinaus aus ihrer Einsamkeit – denn das menschliche Bedürfnis nach Nähe und Verbindung ist einfach zu stark, um ein Leben lang einsam zu sein.

Mein Blatt hat immerhin sich gewendet: Ich verstehe zwar noch immer nicht zu jeder Zeit alle Personen um mich herum und in manchen Situationen komme ich mir einsam vor, doch ich habe Menschen in meinem Leben, denen ich mich nahe und verbunden fühle, denen ich vertraue und mit denen ich viele schöne Momente der Gemeinsamkeit erlebe. Nein, ich bin aktuell nicht einsam. Und das Gute ist: Ich muss dafür nicht einmal mehr Malibu-Ananas trinken.

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