ALS MICH EINE GOTTESANBETERIN IN MEINER BERLINER WOHNUNG BESUCHTE

Ich ahnte nichts Böses, als ich nach meinem T-Shirt griff, das über der Stuhllehne lag. Plötzlich sprang ein gelb-grünes Etwas hervor und landete auf meinen Schuh. Es war etwa fingerlang, so schien mir, und als ich es greifen wollte, schwirrte es unter die Heizung. Wir beide hatten uns mächtig erschrocken. Zum Glück war es mir gelungen, noch ein Foto zu machen, wenn auch ein leicht verwackeltes. Denn ich wollte wissen, was das für ein Wesen war, das ich noch nie zuvor gesehen hatte.

Im Internet sah ich: Es war eine Gottesanbeterin! Es gibt sogar ein Portal, um solche Funde zu melden, initiiert vom Naturkundemuseum Potsdam und den Mantidenfreunden Berlin-Brandenburg. Mantis religiosa, so heißt die Europäische Gottesanbeterin nämlich. Und kurz, nachdem ich mein Foto und die Daten des Fundorts abgeschickt hatte, kam die Antwort: „Ja, es ist eine“, und zwar ein Männchen.

„Na so wat“, mischte sich sofort mein innerer Berliner ein. „Da siehste mal wieder, det die janze Jeschichte mit die Dschänderei inkonsequent is. Wie kann een Männchen ne Jottesanbeterin sein? Wo bleibt der Jottesanbeter? Dit is jenauso wie mit de Schwalbe. Da fracht man sich gleich: Wat macht der Schwalberich?“ – „Darum geht’s hier nicht“, zischte ich und brachte meinen inneren Berliner zum Schweigen.

Ich wollte vor allem wissen, warum gerade mich solch ein Tier besucht hatte. „Ich bin ja in gewisser Weise auch Gottesanbeterin“, schrieb eine Jugendfreundin zurück, der ich das Bild geschickt hatte. Sie lebt in der Schweiz, arbeitete lange als Pfarrerin. „Aber ich bin’s nicht gewesen. Ich würde niemals so inkognito in eurer Wohnung rumschleichen.“ Also, wer war’s dann? Und was soll mir dieser Besuch sagen?

Um das zu erfahren, habe ich ein wenig herumgelesen. Die Europäische Gottesanbeterin kam lange in unseren Breiten gar nicht vor. Sie lebt vor allem in wärmeren Gegenden, etwa am Mittelmeer. In Deutschland wanderte sie seit den 1990er-Jahren langsam aus dem Süden nach Norden. 2003 wurde sie in Sachsen, 2007 in Brandenburg zum ersten Mal gesichtet. „Auch in Berlin und Potsdam mehren sich die Funde“, schreiben mir die Leute vom Mantis-Portal. In Schöneberg soll es sogar schon seit 1998 eine stabile Population geben.

Wer also hartnäckig leugnet, dass es insgesamt wärmer wird – Klimawandel genannt –, dem sollte so eine Gottesanbeterin mal nachts an die Nase hüpfen. Aber was macht sie bei mir? Ich leugne nichts. Soll ich vielleicht mal wieder irgendwas anbeten?

Ist sie vielleicht eine Warnung, nicht zu lange das Fenster offenzulassen? Immerhin weiß man ja gar nicht, was alles in den dichten Sträuchern vor unseren Fenstern lebt. Irgendwann kommt vielleicht ein Skorpion aus der Ecke vorgeschossen, eine afrikanische Vogelspinne hockt in der Ecke und ein Affe turnt an der Lampe.

Die Gottesanbeterin ist eine Lauerjägerin. Sie sitzt geduldig da und wartet auf Beute. Wer weiß, auf wen sie in meinem T-Shirt gelauert hat. Vielleicht hat sie sich auch nur versteckt. Wie ich lese, betreibt auch die Europäische Gottesanbeterin sexuellen Kannibalismus. Das heißt, Männchen werden nach der Paarung vom Weibchen aufgefressen. Nicht immer, aber sehr oft. Ganz bestimmt war mein armes Männchen auf der Flucht. Und ich habe es mithilfe eines Glases unter der Heizung hervorgeholt und wieder in das gefährliche Gebüsch unter unserem Fenster entlassen. Das war alles andere als ein Akt männlicher Solidarität.

2024-09-19T16:31:31Z dg43tfdfdgfd